6Mai
2006

Dawson City (30 days 4)


Muri hält das Lenkgrad des Pickups fest umklammert. Seine Augen sind konzentriert nach vorne gerichtet. Die öffentliche Straße von Inuvic nach Dawson City führt zwar endlos geradeaus, ist aber nichts weiter als eine holprige Schotterpiste. Immer wieder erscheinen plötzlich Hindernisse. Geröll, ein Tierkadaver oder ein verdörrter Baumstamm zwingen zu Ausweichmanövern. Muri könnte dreißig sein. Genau lässt sich sein Alter nicht schätzen. Seine indianische Abstammung sieht man ihm an. Er hat eine breite Nase und die großporige Haut seines Gesichts ist bei aller Blässe von anderem Teint als bei uns Europäern. Trotz eines sehr spärlichen Bartwuchses trägt er einen Oberlippenbart. Das scheint bei den Männern hier beliebt zu sein. Schon in Inuvic fiel mir auf, dass viele der Männer ein solches Bärtchen tragen. Muri ist der Neffe meiner Inuvicer Herbergsgeber, der wie angekündigt gestern Abend noch kam, um Ware zu bringen. Er ist nicht sehr gesprächig. Das kommt mir gelegen, denn es ist mit meinem sehr mittelmäßigen Englisch schon sehr anstrengend stundenlange Gespräche zu führen, insbesondere dann, wenn mein Gegenüber wie Muri einen sehr eigenwilligen Dialekt spricht.

Noch Sonjas spontane Reaktion zu dieser Idee im Ohr, hatte ich mich heute früh entschlossen, Muri zu fragen, ob er mich auf seiner Rückfahrt mitnimmt. Ohne zögern stimmte er zu und als ich ihm noch ein paar Dollar für diesen Lift anbot, nahm er die etwas schamhaft, aber offensichtlich gern an. Die Entscheidung auf dem Landweg quer durch das Yukon Territorium an die Westküste zu gelangen, war damit gefallen. Wie sich das im Detail gestalten wird, wird sich noch zeigen. Alte Kindheitserinnerungen an Filme mit Trappern und Goldsuchern gingen mir durch den Kopf. Die Fantasie diesen abgelegenen Teil Kanadas zu bereisen, hatte ich schon lange, jetzt sollte sie ungeplant zur Realität werden. So was nennt man wohl Schicksal. Ich bin noch zu dem Hotel, in dem der Flugcrew und auch Sonjas Reisegruppe untergekommen ist, um mich abzumelden. Der Kapitän hatte natürlich erhebliche Bedenken, wies mich auf Gefahren und Versicherungsschutz hin und riet mir eindringlich auf die angekündigten Wartungs- und Tankflugzeuge zu warten. Kopfschütteln verabschiedete er sich dann von mir. Ich traf am Ausgang erneut Sonja, die gerade mit einem Teil ihrer Gruppe hineinkam. Wir tranken gemeinsam einen Kaffee und tauschten die Email-Adressen. Eine halbe Stunde später stieg ich zu Muri in seinen Pickup.

Jetzt sitze ich schon zehn Stunden neben Muri und bin mittlerweile durch das Schütteln und Rütteln halb betäubt. Der Pickup ist ein robustes Fahrzeug, aber ohne jeglichen Komfort. Gerade haben wir ein Schild passiert, auf dem Dawson City nur noch mit einer zweistelligen Entfernungsangabe aufgeführt war. „About an hour“ murmelt Muri. Ich denke, eine Stunde klingt gut, ist auch egal, da ich mich in einem Zustand befinde, der das Zeitgefühl aufgehoben hat. Eine Stunde, zwei Stunden oder zehn Minuten, es scheint mir nicht unterscheidbar. Zwei Stunden später ist die eine Stunde vorbei. Wir haben Dawson City erreicht, jene Stadt, die für ein Jahr das Zentrum aller Hoffnung dieser Welt war. Das war 1898 beim großen Goldrausch. Nachdem bekannt wurde, dass es in den Jahren zuvor tatsächlich beachtliche Goldfunde um den Klondike River herum gab, kämpften sich 100.000 Menschen durch die Wildnis hierher. Gold gefunden haben die Wenigsten von ihnen und die wirklich ergiebigen Claims waren zu diesem Zeitpunkt schon längst verteilt und ausgebeutet. Zwei Jahre später war der Rausch schon wieder vorbei. Aber selbst Jahrzehnte später gab es vereinzelt beachtliche Funde. Beim Renovieren des Orpheum Theatre wurde in den 1940er Jahren Goldstaub im Wert von $1000 unter dem Fußboden gefunden, wohin er aus den Taschen der Goldsucher fast 50 Jahre vorher gerieselt ist. Auch heute wird in der Gegend noch Gold abgebaut. Daneben ist der Outdoor-Tourismus in den Sommermonaten eine der wichtigsten Einnahmequelle der 2000 Einwohner.

Muri stoppt den Wagen. Er zeigt auf ein Gebäude auf der gegenüberliegenden Straßenseite und sagt, „You can stay here“. Das große Haus hat an der Frontseite eine große Veranda, die sich über die gesamte Breite erstreckt. Trotz der für die Jahreszeit typischen Temperatur von maximal 5 Grad, ist eine Hängematte aufgespannt. Die Fassaden sind offensichtlich schon lange nicht mehr gestrichen worden. Die matte, bräunliche Farbe blättert an vielen Stellen vom hölzernen Untergrund ab. Über der Eingangstür leuchtet wie ein Fremdkörper der Schriftzug „Kitty’s“ in rosa Buchstaben. Kaum habe ich über drei Stufen die Veranda betreten wird die Tür aufgerissen und eine kräftige Frau mit nicht schätzbarem Alter steht vor mir. „Hey, I am Kitty“, streckt sich mir eine Hand zur Begrüßung entgegen. Offensichtlich hatte mich Kitty schon erwartet. Ich selbst hatte mir bislang keine Gedanken über meine heutige Übernachtung gemacht. Meine Inuvicer Wirtsleute sind mir in diesem Punkt zuvorgekommen und hatten Kitty telefonisch mein Kommen angekündigt. Kitty gehört wie Muri zu dem erweiterten Kreis ihrer Verwandten, die in der Weite des Yukon Territoriums verstreut leben. Kitty betreibt diese einfache Pension, die aus zwei geräumigen Schlafkammern und einem Gemeinschaftsraum besteht. Heute bin ich der einzige Gast. Die Saison in Dawson City fängt frühsten in vier Wochen an. Im Juli und August werden die Unterkünfte zum knappen Gut. Dann erlebt Dawson City seinen alljährlichen kleinen Rausch, wenn überwiegend Outdoor Touristen anreisen, um sich auf die Spuren der Goldgräber zu begeben.

Kitty weist mich kurz in ihr Hostel ein. Bettzeug hier, Getränke da, Klo dort. Sie hat ein burschikoses, aber letztendlich herzliches Wesen. Sie zieht sich schnell wieder zurück. Mir ist das nur Recht. Mein durch die Gravel Road betäubter Körper schreit nach Schlaf. Neben meine Schlafstätte lege ich einen zerfledderten „Lonely Planet“, der im Gemeinschaftsraum lag. Neun Jahre ist das gute Stück alt, aber das macht in dieser Gegend weniger aus, so schnell ändert sich hier nichts. Zum Lesen komme ich nicht mehr, kaum liege ich, falle ich in einen tiefen Schlaf.
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ライブチャット 素人 (Gast) - 6. Dez, 03:25
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Sollte es zur Frauen-WM nicht auch ein Volksfest geben?...
Oliver (Gast) - 14. Aug, 11:46
Ente gut, alles gut...
...so sieht's aus. Ein paar Bilder aus'm Schlachthof...
heldentenor - 16. Sep, 17:43
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rosmarin - 31. Jul, 19:52
ok.... ich hab in meiner...
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rosmarin - 23. Jul, 01:05
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