19Apr
2006

Ortswechsel

Pollenschin heißt heute Połęczyn, sowie Karthaus heute Kartuzy und Danzig heute Gdańska heißt. Pollenschin liegt ein paar Kilometer südlich von Karthaus und Karthaus findet man 30 Kilometer westlich von Danzig. Westpreußen ist der Namen dieser Region, deren Zugehörigkeit zu Polen und zu Deutschland im Laufe der Geschichte öfters wechselte.

In Pollenschin wurde 1905 ein Mann namens Ernst geboren, der die Eigenschaft hat, Vater meines Vaters und damit mein Großvater zu sein. Ernst war der Älteste unter neun Geschwistern. Seine Eltern waren Bauern und besaßen einen Hof, der die Familie wahrscheinlich eher schlecht als gut ernährte. Ernst ging nicht zur Schule, er arbeitete stattdessen schon im Schulalter auf dem Hof und musste schon in jungen Jahren zusammen mit seinen Brüdern die Arbeitskraft seines früh gestorbenen Vaters ersetzen.

Ich habe an Ernst lediglich ein paar schemenhafte Erinnerungen. Das war der Mann, der mein Opa genannt wurde, den wir sehr selten besuchten, der bei diesen Besuchen mir Magnete vorführte, die er aus dem Radio oder dem Fernseher ausgebaut hatte und dessen Aussehen dank Schnauzer und Scheitel deutlich an Adolf Hitler erinnerte. Ernst war ein Mann, der über handwerkliches Geschick verfügte, darüber hinaus sich - diplomatisch formuliert – durch sein schlichtes Gemüt charakterisierte, weniger diplomatisch ist die Beschreibung meines Onkels, der ihn dumm und versoffen nennt.

Ernst heiratete vermutlich 1930 Berta aus Patull, einem Nachbardorf von Pollenschin. Ein Jahr später wurde Gerd, der erste Sohn, geboren. Es folgten zwei Töchter, eine von ihnen wurde 1945 beim Spielen von einer gefundenen Handgranate getötet. Mein 1942 geborener Vater war der Jüngste der vier Kinder.

Ernst wurde während des Russlandsfeldzuges eingezogen, hatte aber das Glück für die Nachschubüberwachung eingeteilt zu sein und nicht an die vorderste Frontlinie im Osten zu müssen. Daher gelang es ihm, Tod und Kriegsgefangenschaft zu entkommen. Berta bestellte fortan den Hof allein. Gerd, als ältester Sohn, war neben einem polnischen Jugendlichen aus der Nachbarschaft die einzige männliche Arbeitskraft. Zur Unterstützung wurde dem Hof noch eine aus der Ukraine verschleppte junge Frau zugewiesen.

Der Krieg endete mit dem Einrollen russischer Panzer in Pollenschin Anfang 1945. „Das deutsche Militär lief ohne Gegenwehr davon und wurde praktisch auf der Flucht erschossen. Die Felder lagen voll von toten Soldaten, toten Pferden, Pferdewagen, Waffen, Munition, usw.“, so beschreibt mein Onkel die Szenerie. Die Grausamkeit, die zuvor von den deutschen Truppen in ganz Osteuropa verbreitet wurden war, kehrte sich nun der deutschen Bevölkerung zu.

Der Hof wurde von blutjungen mongolischen Rotarmisten besetzt. Was verwertbar war, wurde verwertet und als Nachschub den jetzt westwärts ziehenden russischen Truppen gebracht. Der dreizehnjährige Gerd und die gleichaltrigen Jungens des Dorfes mussten den ganzen Tag das verbleibende Vieh zusammentreiben, bis sie nicht mehr konnten. Sie waren noch jung genug, um nicht erschossen zu werden. Berta und ihre Kinder hatten gerade genug zu essen, um nicht zu verhungern und das war wirklich viel in diesen Monaten.

Wenige Monate nach dem offiziellen Ende des Krieges wurde der Hof einem allein stehenden Polen übereignet. Der verkauft das letzte verbliebene Getreide in Danzig und war nachdem es nichts mehr zu verkaufen gab, ebenso schnell verschwunden, wie er aufgetaucht war. Berta und ihre Kinder wurden noch einige Wochen im Dorf als Arbeitskräfte eines Großbauern geduldet, was ihnen ausreichend Nahrung verschaffte. Dann erhielten sie von den neuen polnischen Behörden den Bescheid, dass sie ausgewiesen sind und umgehend das Land zu verlassen haben. Mitgenommen werden durfte, was getragen werden konnte.

Alle überlebenden Deutschen des Umkreises wurden nach Danzig zu dem Legetor-Bahnhof gebracht. Einige Tage warteten sie dort in Personenwagons auf ihren Transport Richtung Westen. Geschlafen wurde abwechselnd auf den Bänken oder den Fußboden. Die verbliebenen Habseligkeiten wurden in Nahrung eingetauscht. Die einzige kleinkindliche Erinnerung meines Vaters ist, dass ihnen in den Tagen, die sie in den Wagons verbracht haben, ein Brot gestohlen wurde. Plastisch kann er den Korb schildern, in dem das Brot lag und die Aufregung, die sich ausbreitete, als der Diebstahl entdeckt wurde.

Der Zug brachte die Familie zunächst nach Binz auf Rügen. Sie wurden dort mit anderen Ausgewiesenen in ein Hotel einquartiert, das als notdürftiges Sammellager diente. Zu Essen gab es Tag für Tag lediglich Steckrüben mit Wasser und etwas Brot. Gerd arbeitete in der Küche und bekam als Lohn eine zusätzliche Scheibe Brot. Bei dieser Arbeit erfuhr er, dass sich Familien, die Verwandte im Westen Deutschlands haben, bei der Lagerleitung melden sollten, damit sie zu denen gebracht werden können. Gerd erinnerte sich an eine Tante, die im Ruhrgebiet lebte und überredete seine Mutter sich deshalb auch zu melden. Daher wurde Berta mit ihren drei Kindern erneut in einen Zug gesetzt, der jedoch nie das Ruhrgebiet erreichte, sondern im südniedersächsischen Sammellager Friedland endete.

Nach diesem mehrtägigen Transport waren alle durch den Hunger krank und vollkommen erschöpft. Mein damals dreijähriger Vater war besonders mitgenommen. Man brachte ihn aus dem Lager in ein nahe gelegenes Krankenhaus und dort erholte er sich sicherlich nicht zu letzt Dank seiner kräftigen Grundkonstitution. Die Versorgung der Überlebenden in der britischen und amerikanischen Zone war deutlich besser als zuvor in den östlichen Gebieten.

Die Neuankömmlinge wurden im Lager vom Roten Kreuz mit Kleidung und Nahrung versorgt. Nachdem sie nach ein paar Wochen durch regelmäßige Speisen etwas gekräftigt waren, wurden sie in den umliegenden Dörfern angesiedelt. Auf Pferdekarren wurde sie zu ihrem neuen Zuhause gebracht. Willkommen waren sie da nicht. Die alten Bewohner nahmen die Flüchtlinge nur missmutig zur Kenntnis und akzeptierten die neuen Nachbarn nie.

Ernst schlug sich in dieser Zeit allein nach Westen durch. Entlang der Ostseeküste schaffte er es zum Teil mit einem selbstgebauten Floß bis nach Schleswig Holstein. Über den Suchdienst des Roten Kreuzes fand er seine Familie wieder. Später fand er Arbeit als Betriebsmaurer im nahe gelegenen Kassel. Berta arbeitete hin und wieder bei den Kleinbauern der Region, um die stets - nicht zu letzt wegen Ernsts Hang zum Alkohol - knappe Familienkasse etwas aufzubessern.

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rosmarin (Gast) - 19. Apr, 17:33

sehr spannend. und sehr unerwartet, hier von dir plötzlich eine lange familiengeschichte zu entdecken. gibts noch mehr davon zu lesen???? gruss aus der fremde

Windrider - 25. Apr, 00:57

Hallo 40plusX,

deine Geschichte ist sehr spannend geschrieben, ich werde weiterlesen. Ich habe auch schon länger überlegt einmal meine Familiengeschichte zu schreiben, aber ich war immer ein bisschen ratlos wegen der vielen Lücken, die sich dann an manchen Stellen ergeben würden.
lg Windrider

cornflakesblau (Gast) - 27. Apr, 08:32

schmerzhafte lücken

viel mehr erzählt die Kriegsgeneration nicht mehr - und gerade die schmerzhaften lücken zeichnen sich durch dieses eigenartige schweigen aus. manchmal war ich geradezu froh über dieses schweigen, aber meine vorstellungskraft konnte mir bilder zeigen, die ich nie jemanden wünsche.

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