2Mai
2006

Landung (30 days 2)


Es gibt kaum Wolken, daher kann ich meinen Fensterplatz in vollen Zügen genießen. Gebannt schaue ich durch das kleine Guckloch und versuche die Landschaft, die unter mir vorbeizieht, in Einklang mit den Landkarten zu bringen, die in meinem Kopf abgelegt sind. Ich erkenne Gießen und Marburg, aber danach gelingt es mir nicht mehr Orte zu identifizieren. Es dauert nicht lange, da zeichnet sich eine Küstenlinie ab und schon liegt das europäische Festland hinter mir. Die nächste Küste naht und dahinter ist ein riesiger grauer Fleck, aus dem winzige Rauchwölkchen aufsteigen, zu sehen. Der Fleck wird größer und größer, ein Geflecht von Linie durchzieht ihn, in der Mitte teilt ihn ein breites geschwungenes Band, die graue Fläche löst sich auf zu kleinen Quadern, die langsam zu Gebäuden mutieren und das teilende Band wird zu einem Fluss, auf dem winzige Schiffe schwimmen. London.

Die Hand einer Stewardess legt sich auf meine Schulter und deutet mir, den Tisch aus der Rückenlehne meines Vordersitzes aufzuklappen. Essensausgabe. „You prefer chicken or pork“, fragt sie mich. Ich entscheide mich für die als Huhn bezeichnete Speise. Das Gemurmel der ein paar Reihen vor mir sitzenden Reisegruppe hat sich deutlich verstärkt. Offensichtlich findet eine lebhafte Diskussion über die Qualität des Essens statt. Ich lasse mir einen Weißwein reichen, esse mein auf der Speisekarte als „Hühnerbrust an zartem Gemüse mit Ofenkartoffel“ ausgewiesenes Mittagessen. Ich esse auch die Süßspeise, die mehr süß als Speise ist. Beim Blick aus dem Fenster sehe ich, dass wir mittlerweile über dem Atlantik schweben.

Kurz nach der Mahlzeit bittet das Bordpersonal, die Fenster zu verdunkeln. Dies ist ein Tagflug. Vancouver ist Frankfurt acht Stunden hinterher. Wir sind Mittags gestartet und werden nach fast zwölf Stunden Flug mit Zwischenstop in Edmonton am Nachmittag in der kanadischen Westküstenmetropole landen. Ein ziemlicher langer Tag ist das also heute. Mit der Hoffnung, während des Fluges etwas schlafen zu können, bin ich heute schon um Fünf aufgestanden, um in Vancouver gut bis zum Abend durchzuhalten und damit das Jetlag schnell auszupendeln. Es gelingt mir tatsächlich etwas einzudösen.

Als ich wieder aufwache, sind drei Stunden vergangen. Vor den Bordtoiletten haben sich kleine Schlangen gebildet. Ich schiebe den Sichtschutz des Fensters ein kleines Stück nach oben, um hinauszuschauen. Grelles Licht fällt hinein. Einen Moment brauchen meine Augen, um sich daran zu gewöhnen. Tief unter uns erstreckt sich eine bizarre Landschaft. Bräunliche Felswände, die von dickem Eis eingepackt sind, sind zu erkennen. Grönland. Der Anblick aus 10.000 Meter Höhe ist fantastisch. Gebannt verfolge ich die kleinen Variationen dieser scheinbar unendlich weiten Landschaft. Irgendwann ist nur noch eine monotone weißgraue Eisfläche zu sehen.

Plötzlich habe ich das Gefühl, dass wir uns im Sinkflug befinden. Das Bordpersonal macht einen etwas unruhigen Eindruck. Es flüstert miteinander und scheint sehr darauf bedacht, dass die Passagiere das nicht mitbekommen. Das Anschnallzeichen erklingt. Die Flugbegleiter gehen die Gänge auf und ab, künden eine wichtige Durchsage des Kapitäns an und ermahnen sehr energisch, die Plätze nicht zu verlassen.

Der Film, der auf der Leinwand im Mittelgang zu sehen ist, wird abgeschaltet. Die Lautsprecheranlage knackt laut. Das Räuspern einer männlichen Stimme hallt durch das Flugzeug. „Sehr geehrte Damen und Herren, hier spricht ihr Kapitän, ich bitte sie um ihre Aufmerksamkeit. Aufgrund eines Computerproblems müssen wir unsere Flugroute ändern. Statt in Edmonton werden wir unseren Zwischenstopp in dem etwas nördlicher gelegenen Inuvik einlegen.“ Die Stimme des Kapitäns ist ruhig und sachlich. Er betont, dass wir nicht entführt worden seien und dass das Flugzeug in einem technisch einwandfreien Zustand ist und daher dieser Stopp keine Notlandung ist. Er erläutert, dass dem Navigationssystem falsche Daten eingespielt wurden und wir uns daher auf einer wesentlich nördlicheren Route als geplant sind, weshalb der Treibstoff nicht bis Edmonton reicht. Nach der Ansage ist es sehr ruhig im Flugzeug. Fünf Minuten meldet sich der Kapitän erneut. Er unterstreicht nochmals, dass kein Grund zur Beunruhigung besteht, dass das Flugzeug keine technischen Probleme hat und dass es nicht entführt ist.

Inuvik, der Name dieses Ortes kommt mir bekannt vor. Ich habe das Gefühl, „etwas nördlicher“ bedeutet in diesem Fall ein paar Tausend Kilometer nördlicher. Langsam wird das Kabineninnere wieder durch gleichmäßiges Murmeln gefüllt. Laut vernehme ich von hinten eine tiefe Stimme, dass dies ein juristisches Nachspiel haben wird. „Det is jo midden in de Arcktisch“, vernehme ich es rechter Hand. Ich schaue hinüber und sehe eine Frau, die ungläubig in ihrem Reiseführer blättert. „Kenne Sorgsche, Schatsch, Kanada is doch a wästlesches Land“, bemerkt der Mann neben ihr mit leicht angespannter Stimme. Der Bass hinter mir beweist ein ausgesprochen ausgeprägtes Rhythmusgefühl, indem er in äquidistanten Abständen die Ankündigung der juristischen Folgen wiederholt.

In der folgenden Stunde ist die Anspannung im Flugzeug deutlich zu spüren. Da wir aber sehr ruhig dahin gleiten und die Kabinencrew eine bemerkenswerte Freundlichkeit bewahrt, kommt es zu keinen wirklichen Turbulenzen unter den Passagieren. Hier und da wird sogar etwas sarkastisch gescherzt. Wir haben mittlerweile deutlich an Höhe verloren und fliegen über eine schier grenzenlose Permafrostlandschaft. Die Stimme des Kaptitäns ertönt erneut und kündigt die Landung an. Ich versuche, eine Ansiedlung zu entdecken, ohne Erfolg. Die Landung ist ganz sanft. Klatschen und Ausatmen ertönen. Langsam rollt das Flugzeug nun durch die weißgräuliche, unwirtliche Landschaft. Dann sehe ich ein Stahlgerüst, was offensichtlich der Tower des hiesigen Flughafens ist. Daneben befinden sich drei einsame Wellblechbaracken.

Ich bin noch keinen halben Tag unterwegs, hatte mich spontan zu einer Weltreise überreden lassen, wollte von Frankfurt, wo endlich der Frühling ausgebrochen war, zunächst nach Vancouver, wo laut Wetterbericht auch der Frühling Einzug hält, um mich von dort ausgehend Richtung Süden weiter aufzuwärmen. Und jetzt sitze ich im Permafrost. Ich kann den Gedanken nicht abschütteln, dass hier gerade etwas schief gelaufen ist.

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svashtara - 3. Mai, 11:23

Inuvik

klingt sehr grönländisch und ungeheuer spannend. Wie bei Elsa schon angemerkt, bin ich immer etwas unsicher, wenn man mir breit versichert, es sei alles in bester Ordnung. Das macht mich mißtrauisch. Vermulich habe ich einfach nur zu viele Romane gelesen, aber auch ich habe den Eindruck, dass bei deiner Reise irgendwas denkbar schräg läuft. Spannend wirds in jedem Fall. Also schnell weiterschreiben... :-)

rosmarin (Gast) - 3. Mai, 13:12

wow...... sehr spannend. nun landen also alle in der gefrorenen urlandschaft. heia safari..... sehr spannend..... gehts bald weiter????

steppenhund - 3. Mai, 14:40

Es könnte sein, ...

dass gerade der Weltkrieg begonnen hat. Der Pilot weicht aus und landet mit dir auf einem Plätzchen, das noch einige Zeit vor Verstrahlung sicher ist.
Aus dem Land leben wird allerdings schwierig sein.

ElsaLaska - 3. Mai, 21:19

Applaus!!!!!

Und ich kann es ja SO gut nachfühlen. Zu mir sagten sie mal auf dem Flug nach Kuala Lumpur: We are landing in 25 Minutes in Karachi. Aber ohne Erklärung und OHNE zu beteuern, dass wir NICHT entführt worden wären. Scheiße, echt. Nach Pakistan will ich wirklich NIE WIEDER (die indischen Fluglotsen hatten gestreikt) - aber wenigstens war es wärmer als in der Arktis :)

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