3Mai
2006

Inuvik (30 days - 3)


Vor mir steht eine Flasche Heinecken. Die grüne Flasche ist der vertrauteste Gegenstand in dieser ungewohnten Umgebung. Der ausgestopfte Eisbär am anderen Ende des Raumes verdeutlicht, wo ich hier bin. Ich sitze am Tresen im „Back Room“, einer der fünf Kneipen von Inuvik. Inuvik liegt fast 4000 Kilometer nördlich von Vancouver, meinem ursprünglichen Reiseziel. Mittlerweile weiß ich, dass Inuvik der nördlichste Ort Nordamerikas ist, zu dem eine öffentliche Straße führt. Die Jahresdurchschnittstemperatur liegt bei -9 Grad. Heute war ein sonniger Tag, so dass sich am Nachmittag die Milde des Gefrierpunkts breit machte. Für die nächsten Tage ist vergleichbares Wetter vorausgesagt. Inovic ist eine Retortensiedlung, die irgendwann in den 50ziger des letzten Jahrhunderts als Verwaltungszentrum dieser arktischen Einöde gebaut wurde. Es leben hier Nachfahren der Ureinwohner, Trapper, Polarforscher und einige Geschäftsleute. Vor dreißig Jahren gab es hier einen Öl-Boom, der aber mittlerweile auch Geschichte ist. Der Ort macht heute einen eher verwahrlosten Eindruck.

An einem der Tische sitzt das Paar, was mir auch am Frankfurter Flughafen gegenüber saß. Sie schauen ausdruckslos auf den Tisch. Sie sitzen nebeneinander, nicht gegenüber oder über Eck, so dass sie sich bei Tisch ansehen können. Er stochert lethargisch in den Pommes herum, die vor ihm stehen. Sie reden nicht miteinander, nicht mit anderen, schauen sich nicht an, sitzen da nur. Zu zweit und doch allein, denke ich.

Die Reiseleiterin von der großen Gruppe steht plötzlich in der Eingangstür. Sie scheint es geschafft zu haben, sich ihren Schützlingen zu entziehen. Vorhin nach der Landung auf den Flughafen konnte man Angst bekommen, dass sie von ihrer Reisegruppe erdrückt wird. Eingekeilt von 50 Leibern sollte sie umgehend klären, wann es weitergeht, wo es was zu essen gibt, wo die Klos sind, was das beste Hotel am Ort sei und was der organisiert reisende Tourist noch so wissen will. Ich grüße sie mit einem Kopfnicken. Daraufhin kommt sie auf mich zu und fragt, ob sie sich zu mir setzen könnte. Das finde ich gut, so wie diese Reise anfängt, werde ich die nächsten Wochen noch genügend Gelegenheiten für die Lonley-Cowboy Rolle haben. „Geschafft“, frage ich. „Das kannst Du schriftlich haben, so etwas habe ich noch nicht erlebt“, antwortet sie. Sie bestellt auch ein Heinecken. Kopfschüttelnd schildert sie mir die Wünsche, die einige ihrer Reisenden ihr angetragen haben. Es war ihr tatsächlich gelungen, die gesamte Gruppe in einem einzigen Hotel unterzubringen. Anschließend gab es Beschwerden über die fehlende Minibar oder das nur englische Fernsehprogramm. Nachdem sie ein wenig ihren Frust über die Gruppe abgelassen hat und ich meinerseits meine Verwirrtheit über die Situation bekundet habe, ergibt sich ein ganz gemütliches Schwätzchen. Sonja heißt sie. Sie ist seit zehn Jahren als Reisebegleiterin tätig und hat sich in den letzten Jahren auf Kanada spezialisiert. In Inuvik war sie freilich auch noch nie. Es tut gut, nicht nur über unseren Aufenthaltsort zu reden.

Wir sind also in Inuvik. Ich kann den Ort auf der Landkarte einordnen, was vor fünf Stunden noch nicht der Fall war und ich weiß, wie man hier hinkommt, wenn auch nicht mit Vorsatz. Unbeantwortet ist aber noch die Frage, wie und wann ich hier wieder wegkomme. Auch Sonja ist da noch nicht weiter. Die Reisegesellschaft, für die sie arbeitet, hat ihr zwar mehrfach versichert, dass sie sich intensiv um eine Lösung kümmert, aber mehr bekam sie auch nicht zu hören.

Nach der Landung hatte sich die Anspannung einiger Passagiere entladen, als zwei mit dicken Daunenjacken bekleidete Ranger unsere Pässe zur Einreise kontrollieren wollten. Dies wurde als Unverschämtheit empfunden, man habe es nicht nötig, sich an Orten, an denen man nicht landen wollte, auszuweisen. Ein kleiner, leicht kräftiger Mann mit einem auffällig geröteten Kopf machte den Eindruck, er wolle auf die einen Kopf größeren Ranger losgehen. Einer der Stewardessen gelang es mit Charme die Situation zu schlichten. Anschließend hat der Kapitän zunächst alle Passagiere in einer dieser Blechbaracken zusammengerufen. Er erklärte, dass ein Weiterflug frühsten morgen möglich sei, er jedoch noch keine definitive Aussage treffe könne. Die Betonung lag verdächtig auf „frühsten“. Folglich mussten Übernachtungsmöglichkeiten organisiert werden. Bei Nachttemperaturen von -10 Grad war eine Nacht im Flugzeug keine Alternative. Die Hotelkapazitäten von Inuvic sind aber nicht auf mehrere hundert Besucher ausgelegt.

Mittlerweile hatte sich die unerwartete Ankunft unseres Flugs auch im Ort, der fünf Kilometer von der Landepiste, die hier Airport genannt wird, entfernt liegt, herumgesprochen. Etwa zwei Dutzend Einwohner sind daraufhin mit ihren Pickups gekommen und boten private Quartiere an. Ich entschied mich, bei einem nett wirkenden älteren Ehepaar zu übernachten. Nach einem der jetzt überfüllten Hotels stand mir nicht der Sinn. Zu meiner Überraschung bekam ich in ihrem Häuschen ein richtig gemütliches Zimmer, das früher von ihrem Sohn bewohnt wurde. Sie gaben mir auch einen Schlüssel, weil sie selbst früh schlafen gehen. Bevor ich losging, um im Ort etwas zu essen, unterhielt ich mich ein wenig mit ihnen. Die Beiden betreiben einen kleinen Gemischtwarenladen und leben schon seit über zwanzig Jahren hier. Sie erzählten mir auch, dass am Abend noch ein Neffe von ihnen aus Dawson City kommt, der Ware bringt und morgen wieder zurückfährt. Da kam mir der Gedanke, ob dies nicht eine Möglichkeit ist, schnell ein Stück südwärts zu kommen.

Ich erzähle Sonja von meiner Idee. „Mach das“, sagt sie spontan, „Du hast keine feste Buchungen, bist auf keine Route festgelegt und bis die Fluggesellschaft das Ding hier im Griff hat, können locker vier Tage verstreichen.“ Wir bestellen zwei Heinecken und plaudern noch ein wenig. Langsam spüre ich massiv die Müdigkeit, das Jetlag lässt grüßen. Auch Sonja ist erschöpft. Wir verabschieden uns. Ich kann jetzt unter die dicken Federdecke bei meinen Wirtsleuten kriechen, sie muss noch einmal Präsenz bei ihrer Reisegruppe zeigen, bis auch sie Feierabend hat.

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ElsaLaska - 3. Mai, 23:24

Wenigstens

gibts Bier. Das ist schon was! Gabs in Karachi ja nicht :(

svashtara - 3. Mai, 23:56

Ja, wenigstens gibts Bier

und ein gemütliches Bett. Und eine ungewohnte Umgebung zu erkunden. Schön, dass du so gut untergekommen bist, ich hatte schon eine Jurte befürchtet. aber ein schönes Zimmer bei netten Leuten ist natürlich viel besser! Ich bin echt mal gespannt auf deine Erfahrungen...

rosmarin (Gast) - 4. Mai, 10:34

hach.... was ne geile abenteuerreise. einfach so wie ein papierschiffchen auf den schaumkronen umhertreiben..... und heineken ist ja nicht das schlimmste trostbonbon..... feix

steppenhund (Gast) - 4. Mai, 13:01

eine echte Katastrophe

hätte sich wohl schon herumgesprochen.

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