9Mai
2006

Stewart (30 days - 6)


Ich sitze an der kürzeren Seite der über Eck angeordneten Theke, was mir gute Sicht in den großen Raum bietet. Guter Platz. Ich kann es nicht leiden, das Lokal im Rücken zu haben. Pat hat mich hier vor einer Stunde abgesetzt. Hier, das ist das „Stewart Hotel“, wie könnte es auch anders heißen? Hier das ist die Synthese aus Bahnhofskneipe, Vereinsheim, Jugendherberge, Kontakt- und Jobbörse, Stundenhotel, Versammlungshalle, Arbeiterwohnheim, Pommesbude, Familienrestaurant … eben die geballte Infrastruktur, die ein Ort wie Stewart benötigt. Das Stewart Hotel ist ein Familienbetrieb. Der Wirt steht hinter dem Tresen und ruft durch den offenen Durchgang zur Küche dahinter seiner Frau zu, was geordert wurde. „Mary, big Burger!“, hallt es dann durch den saalartigen Raum. „Yep!“, tönt es zurück. Seine beiden pubertierenden Töchter bedienen mit gelangweilten Blicken die Tische.

Pat hatte schon an der Busstation auf mich gewartet, als der Greyhound pünktlich in Watson Lake eintraf. Nur in Etappen hatte ich in dieser Nacht geschlafen. Die Sitze des riesigen Busses waren zwar bequem, aber die Stotterattacken des Motors und Steinschläge sorgten für eine unruhige Nacht. Ich war froh, dass Pat vorschlug, erstmal zu frühstücken und nicht sofort loszufahren. Das Wort „Highway“ sollte nämlich nicht mit „Bundesstraße“ oder „Autobahn“ übersetzt werden, es steht lediglich für eine öffentliche Straße. Der bauliche Zustand der Strecke kann sehr unterschiedlich ausfallen. Der Cassier Highway, der Stewart und Watson Lake miteinander verbindet, hat den Ruf besonders spektakulär und wild zu sein. Gegenüber der Busstation war ein Motel, in dem wir ein Frühstück bekamen. Beim wohltuenden Kaffee machten wir uns bekannt. Pat, ein Mittfünziger, vollbärtig und von hagerer Gestalt befragte mich neugierig nach Internetgeschäften, nachdem ich erzählt hatte, mit Computern zu arbeiten. Er selbst handelt mit Allem, was mit Fischen und Jagen zu tun hat, nur Handfeuerwaffen verkauft er nicht, dafür hat er „leider“ keine Lizenz. Am Wochenende macht er mit den Saisonarbeitern der Holz-Gesellschaften rund um Stewart sein wichtigstes Geschäft. Jetzt denkt er über einen Internetshop nach, um seine breit verstreute Kundschaft noch besser bedienen zu können.

Die Fahrt über den Cassier Highway war wirklich beeindruckend. Die Straße schlängelt sich in einem ständigen Auf und Ab durch die Berge und Täler nach Südwesten. Besonders auf den Passhöhen eröffnen sich teilweise grandiose Panoramas. An einigen Stellen ist die Fahrbahn weg gebrochen oder halb durch Erdrutsche verschüttet. Ich wunderte mich, wie Pats breiter Jeep an diesen Passagen dennoch vorbei kam. Am Mittag machten wir an einem Punkt Rast, der eine besonders gute Aussicht über die Gebirgszüge bot. Plötzlich wurde Pat sehr ruhig und zeigte den Abhang hinunter. Ich sah in ein paar hundert Meter Entfernung zunächst nur etwas Dunkles im Unterholz verschwinden. Einen Moment später tauchte es wieder aus dem Gestrüpp auf und war deutlich zu erkennen. Ein Bär. Pat meinte, es sei gesünder jetzt weiter zu fahren. Er erzählte, dass die Stelle ein beliebter Rastplatz sei, was zur Folge hat, dass immer ein paar essbare Reste zurückbleiben. Entsprechend beliebt sei die Stelle daher auch bei den Bären.

Die Dämmerung setzte schon ein, als wir in Stewart ankamen. Der Anblick des Stewart Hotels, aus dem kaltes Neonlicht aus den mit gräulichen Stores gezierten Fenstern schimmerte, war ein herber Kontrast zur zuvor durchfahrenen Landschaft. Entsprechend dem ersten Eindruck war auch das Zimmer, das ich bezog. Ein Bett, ein paar an die Wand montierte Bretter als Ablagefläche, eine Holzstange, die wohl den Kleiderschrank darstellen sollte. Tatsächlich gab es auch einen Stuhl, der verlassen mitten im Raum stand. Kurzum, das Gefühl, in einer Gefängniszelle zu sitzen, stellte sich zwangsläufig ein. Ich stellte daher nur mein Gepäck ab und ging hinunter in den Schankraum, um den Tag mit einem Bier ausklingen zu lassen.

Jetzt sitze ich immer noch hier, da ich den Aufenthalt in meiner Zelle auf die reine Schlafzeit reduzieren will. Am Tresen sitzen fast nur Männer, die meistens gebannt den Fernseher mit der Sportsendung verfolgen. Baseball, ich werde dieses Spiel nie verstehen. Am anderen Ende der Theke sitzt eine Frau. Sie ist Anfang Dreißig und trägt wie alle hier eine kakifarbende Arbeitshose und darüber ein kariertes Flanellhemd. An einem Tisch spielen zwei ältere Ehepaare Karten, an einem anderen zockt eine Herrenrunde. Um den Billardtisch hat sich eine Gruppe Jugendlicher versammelt. Der Typ neben mir erzählt mir gerade seine Familiengeschichte. Auf seine Fragen, was ich hier mache und woher ich komme, hatte ich eintönig und redefaul mit „Traveling“ und „Germany“ geantwortet. Das reichte aus, um von ihm als „great“ eingestuft zu werden und da ein Urgroßvater von ihm in Salzburg geboren war, sah er den Bezug zu mir und fing an zu erzählen. Ich tarne diesen Monolog als Dialog indem ich ungleichmäßig ein Kopfnicken oder ein „oh“ begleitend von mir gebe. Mein Blick bleibt zwischendurch immer wieder bei der Frau am anderen Ende des Tresens hängen. Ihr Gesicht, was durch einen sehr dichten halblangen Haarschopf gerahmt ist, ist attraktiv. Es hat diese Attraktivität, die so jenseits der Ideale aus den Hochglanzmagazinen ist, schwer zu sagen, ob es die Augenfarbe ist oder die einzelnen Sommersprossen oder gar die deutliche Schramme auf der Wange. Ich zucke fast etwas zusammen, als ich bemerke, dass ihr meine Blicke nicht entgangen sind. Dann sehe ich aber das Schmunzeln, was über ihr leicht nach unten geneigtes Gesicht in diesem Moment huscht. Ein schönes Lächeln.

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rosmarin - 10. Mai, 19:55

stark, man sieht förmlich vor sich was du da schreibst.... nun sause ich schnell zum nächsten teil.... vielleicht gibts ja ne reiseromanze :-)

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