4Jul
2006

WM: Halbfinale (provinziell)

Das Weindörfchen an der Mosel ist ein ruhiges und hübsches Örtchen. Die WM hat natürlich auch hier seine Spuren hinterlassen. Fußball ist das Gesprächsthema Nummer Eins in den Lokalen. An einigen Häusern hängen Deutschlandflaggen, auch Autos fahren mit Fähnchen vorbei und beim Bäcker wird ein Campingstuhl und Bettwäsche in den Nationalfarben angeboten.

Ein Ort zum Public Viewing ist das hier nicht. Die nächst Großleinwand ist 50 Kilometer flussaufwärts zu finden. Zwar haben alle Restaurants und Weinstuben auch einen Fernseher positioniert, aber das Angebot wird praktisch nicht angenommen. Die Anwohner bevorzugen offensichtlich die eigene Wohnstube und auch die Feriengäste ziehen sich bei den Spielen in ihre Pensionen oder Wohnwagen zurück. Einen echten Fan gibt es aber. Mit Trikot, Schal, Baseballkappe und einer Trommel steht er einsam am Flussufer und versucht mit seinen Gesängen und Trommelschlägen, für Stimmung zu sorgen.

Während sich die Stadt vor den Spielen zunehmend belebt, weil Viele auf der Suche nach einem attraktiven Platz zum kollektiven Fußballgucken sind, wird es hier je näher der Anstoß kommt stiller und stiller. Das Restaurant, das wir für den Halbfinalabend ausgesucht haben, kündigt an, dass eine halbe Stunde vor Spielbeginn die Küche geschlossen wird. Entsprechend leert es sich frühzeitig. Die Option, mit dem Koch und zwei Rentnerpärchen in der Kellerbar des angrenzenden Hotels das Spiel zu sehen, wird verworfen. Auf dem Rückweg wird auch die Hoffnung, dass die sonst gut besuchte Weinstube am zentralen Dorfplatz zum Public Viewing Treffpunkt wird, schnell gedämpft. Nachdem wir zwei Tropfen bestellt haben, erleben wir, wie an den anderen Tische nach und nach gezahlt werden. Um 20:50 sind wir praktisch die letzten Gäste. Die beiden Herren an Theke mit Dorfsäufercharme sind wohl eher dem Inventar zuzuschlagen. Also zahlen wir auch und begeben uns in die Ferienwohnung.

Zehn Minuten nach Spielbeginn hat das Reh genug von dem Spiel und zieht sich zurück. Schade, aber ich weiß, sie hat eigentlich Recht. Und wäre das hier kein WM-Halbfinale hätte ich wahrscheinlich zehn Minuten später den Fernseher ausgeschaltet, da das Spiel am Anfang zum Zuschauen wirklich nicht besonders attraktiv ist. Wer einmal bei einem Klassenspiel 90 Minuten über ein Fußfeld hin und her gerannt ist, weiß jedoch, welcher Belastung die Akteure bei dieser sommerlichen Hitze ausgesetzt sind.

Das massive Interesse am Fußball resultiert wahrscheinlich mehr aus dem Eventcharakter, der von den Medien inszeniert wird sowie der Lust an Spannung. Hierzulande ist natürlich auch die Tradition von Bedeutung. Die Fernsehbilder des Spiels als solches bieten jedoch für das Auge ziemlich wenig. In Spitzenspielen gibt es innerhalb von 90 Minuten auf beiden Seiten höchstens eine Hand voll Chancen. Meistens gewinnt, wer eine mehr nutzt. Im Wesentlichen dominiert Taktik und Stellungsspiel. Aber genau das wird von den Fernsehbildern, die auf einen Ausschnitt des Spielfeldes reduziert sind, sehr ungenügend eingefangen. Auch das Tempo wird durch den Kameraschwenk erheblich ausgebremst. Bei Volleyball, Basketball oder Handball passiert während eines Spiels erheblich mehr, insbesondere wird Tempo, Athletik und sogar Akrobatik auch im Fernsehen wesentlich greifbarer. Bei einem guten Fußballspiel gibt es vielleicht zwei oder drei tolle Freistöße zu bewundern. Im Gegensatz dazu bieten die Topprofis beim Basket- oder Handball während eines Spieles in atemberaubendem Tempo dutzendweise Zuspiel-, Wurf- und Sprungvarianten, dass man sich fragt, wie das überhaupt physikalisch möglich ist. Allerdings geht es manchmal so schnell, dass der Kameramann nicht mehr hinterher kommt. Und die Zeit, die dem Moderator für verbale Trivialorgien bleibt, ist wesentlich beschränkter. Es wundert mich daher immer wieder, wieso gerade Fußball so eine herausragende Beachtung in den Medien findet und wieso gerade hier so viel mehr Geld gezahlt wird.

Das Spiel wird mit zunehmender Dauer attraktiver und spannender. Schon seltsam, dass so eine Kickerei Wallungen erzeugen kann. Die Italiener machen in ihrer Spielweise einen stabileren und routinierten Eindruck. Dann gibt es doch wieder deutsche Offensiven, die die Hoffnung auf einen Finaleinzug aufrecht halten. Und dann kurz vor Schluss der Verlängerung die entscheidende Szene. Vielleicht einer der schönsten Spielzüge des gesamten Turniers, 1:0 für Italien. Ich kann eine leichte Enttäuschung nicht abschütteln, auch wenn sie mir selbst dämlich vorkommt. Aus, das Spiel ist aus und hat dann am Ende tatsächlich seinen verdienten Sieger gefunden. Aus der Stille der weindörflichen Gassen ertönen plötzlich ein paar Autohupen. Scheinbar hat es auch einige Tifosi hierher verschlagen.
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ライブチャット 素人
ライブチャット 素人 Very pleasant time…
ライブチャット 素人 (Gast) - 6. Dez, 03:25
Sollte es zur Frauen-WM...
Sollte es zur Frauen-WM nicht auch ein Volksfest geben?...
Oliver (Gast) - 14. Aug, 11:46
Ente gut, alles gut...
...so sieht's aus. Ein paar Bilder aus'm Schlachthof...
heldentenor - 16. Sep, 17:43
ich glaube, dies ist...
ich glaube, dies ist ein veganerblog hier. gestern...
rosmarin - 31. Jul, 19:52
ok.... ich hab in meiner...
ok.... ich hab in meiner verzweiflung versucht, in...
rosmarin - 23. Jul, 01:05
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2005-11-21 19:44

Zuletzt aktualisiert:
25. Okt, 13:37

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