15Jul
2006

Zum Arsch der Welt

Der Tag beginnt früh, sehr früh. Und ausgerechnet diese Nacht habe ich extrem schlecht geschlafen, so dass ich ein ordentliches Schlafdefizit im Handgepäck habe. Später am Abend wird mir dieses Defizit noch einen Streich spielen. Der ICE rollt kurz nach Sieben aus Frankfurt heraus. Ich versuche doch noch etwas Schlaf zu kriegen, falle auch zwei oder drei Mal in diese Phase, in der sich die Wahrnehmung mit der Fantasie skurril vermengt, kurze Momente von Sekundenschlaf, aber nicht mehr. Der Zug fährt bei morgendlichem Sonnenschein durch die wohl begrünten Täler des hessischen Mittelgebirges. Meine Heimat, ich mag diese Landschaft. Irgendwann erkenne ich die Wasserkuppe, auf der die Sendeanlage im Sonnenlicht wie ein kleiner Stern funkelt. Kurz danach passiere ich die Linie, bei der es einst nicht mehr weiter ging, vor der ich oft stand und wissen wollte, wie es dahinter weitergeht. Von dem eisernen Vorhang ist heute nichts mehr zu sehen.

Der Zug wird plötzlich ganz langsam, bleibt stehen, fährt langsam wieder an, bewegt sich nur im Schritttempo voran. Eine Störung der Signalanlagen in Eisenach wird aus den Lautsprechern verkündigt. Langsam werde ich nervös. Die großzügige Umsteigezeit für Erfurt schmilzt deutlich dahin. Wenn ich dort mein Bimmelbähnchen verpasse, könnte sich die Weiterreise etwas kompliziert gestalten. Mit einer halben Stunde Verspätung erreiche ich Eisenach. Immer wenn ich nach Eisenach komme, habe ich das Gefühl wieder jenen Geruch der Braunkohleheizungen in der Nase zu haben, der bei meinen ersten Besuchen so dominant über der Stadt lag. Selbst in diesen klimatisierten ICE des Jahres 2006 scheint sich die Luft des Jahres 1989 auszubreiten. Für einen Moment öffnet sich ein freier Blick auf die Wartburg. Ich war immer noch nicht da oben. Ich muss das in diesem Leben unbedingt noch nachholen.
Jenseits von Erfurt
Nach Eisenach setzt sich die Fahrt mit normaler Reisegeschwindigkeit fort. Deutlich hebt sich in der Silhouette des Thüringer Waldes der große Inselberg mit seinen Funkmasten ab. Auch ein Landstrich, den ich mag. Erinnerungen an verschiedenste Wochenende in der Region huschen kurz an mir vorbei. Ganz oben auf der Liste natürlich die sportlichen Trips mit der alten Clique zum Rennsteiglauf. Erst neulich erzählte mir ein Bekannter, dass sich das Starterfeld in den letzten Jahren noch erheblich größer geworden sei. Ich spüre deutlich Lust, wieder hierher zu kommen.
adw-a2
Der Zug erreicht Erfurt ohne weitere Verzögerung. Meine leichte Nervosität bezüglich des Anschlusszuges war natürlich überflüssig, weil auch dieser Zug verspätet ist. Der komfortable Teil der Reise ist damit zu Ende. Weiter geht es mit einem Regionalexpress. Der Bahnsteig ist voll. Viele Gruppen von Jugendlichen und Heranwachsenden die alle mit Bierflaschen ausgerüstet sind unterwegs. Die zweite, signifikant vertretende Gruppe sind Rentner. Der Erfurter Bahnhof ist immer noch Baustelle und schmunzelnd frage ich mich, was wohl da mit dieser Werbetafel für Assoziationen freigesetzt werden können. Ich erobere mir einen Platz im vollen Zug. Kampftrinken scheint hier Jugendkult zu sein. Die Jungs und Mädels pumpen ganz schön ab. Nicht nur Bier, sondern auch Flaschen von Jägermeister und Korn machen die Runde. Mit glasigen Augen rennen und grölen die Grüppchen im Wagon hin und her. Es ist kurz nach Zehn. Die Fenster sind offen, der Fahrtwind pfeift ein Liedchen und das Fahrwerk ist auch nicht gerade gut gefedert. Aber irgendwie macht mir das heute einen Heidenspaß, dies Alles zu erleben.
Jenseits von Erfurt
Draußen hat sich die Landschaft verändert. Es ist jetzt wesentlich flacher. Statt Wälder prägen jetzt riesige Felder das Bild. Sie scheinen im ersten Moment alle irgendwie gleich auszusehen und haben dann ganz individuelle Strukturen. Dann schlängelt sich die Trasse entlang der Saale. Die Landschaft ist hier wieder etwas lieblicher. Kleine Weinberge erheben sich. Plötzlich passiere ich ein weites gelbes Areal. Ich bin irritiert, Raps, um diese Jahreszeit? Dann löst sich die Fläche für mein Auge in Tausende von Sonnenblumen auf.
Jenseits von Erfurt
Jenseits von Erfurt
Genau so plötzlich wie die Sonnenblumen erscheint ein Labyrinth von Rohren. Zwar sind entlang der Strecke immer wieder kleine Gewerbegebiete zu sehen. Doch wesentlich markanter sie die vielen alten Industrieanlagen, die leer stehend von vergangener Backsteinkultur zeugen. Leuna bildet daher hier einen auffälligen Kontrast.
Jenseits von Erfurt
Ich wechsele noch einmal den Zug. Das Gefährt, das mich nun voran bringt, hätte man früher als Schienenbus bezeichnet. Von den Gleisen wird nur noch eines betrieben. Die Natur holt sich die restlichen Gleisanlagen langsam und stetig zurück.
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Der Zug hält alle fünf Minuten. Die Anzahl meiner Mitreisenden hat sich auf dieser fast letzten Etappe deutlich reduziert. Irgendwann geht es nicht mehr weiter. Zwei Böcke markieren das Ende des Schienennetzes.
Jenseits von Erfurt
Ich steige aus dem Zug. Die Sonne hat ihren höchsten Punkt erreicht. Highnoon. Ein leichter Wind weht über die mit Gestrüpp überwucherte Bahnanlage. Eine Szenerie wie in einem Sergio Leone Edelwestern. Fast fühle ich mich wie Charles Bronson, nur das ich keine Satteltasche sondern einen Rucksack geschultert habe. Es fehlt nur noch, dass die Töne einer Mundharmonika ertönen. Henry Fonda taucht dann auf der anderen Seite des verfallenen Bahnhofs in Form des berühmt, berüchtigten Ärmelschoners auf. Mit ihm und seinem vierrädrigen Ross begebe ich mich dann auf die letzten Kilometer zum Ziel.

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zuckerwattewolkenmond - 17. Jul, 00:54

Stimmt. Könnte man sich tatsächlich als Kulisse für so einen Western vorstellen.
Nettes Abenteuer, das du da mit uns teilst. ;o)

40plusX - 17. Jul, 01:02

Upps, noch jemand so spät munter. Ja, ja, wenn schon kein echtes Abenteuer, so doch ein Tag, der ein nettes Geschichtlein abwirft.
rosmarin - 17. Jul, 08:06

ich finde du solltest eigentlich nur noch herumreisen und uns mit deinen reiseberichten erfreuen :-)

40plusX - 17. Jul, 10:28

Interessanter Gedanke

Ich bin ja sowieso am Grübeln, was ich so noch in diesem Leben machen könnte. Ob ich jemanden finde, der einen 40plusX-Loose auflegen will?
Argwohn (Gast) - 17. Jul, 09:23

Erfurt

"Manchmal ist länger auch besser" vielleicht deutet dies daraufhin, dass der Umbau des Bahnhofs sich unerwartet verlängert hat, denn eigentlich glaubte ich, die Umbauarbeiten seien beendet.
Heute Nachmittag werd ich selbst mit dem Zug nach Erfurt fahren, allerdings ohne Bibop & Co. sondern mit dem Fahrrad im Schlepptau. Ich bin der Zeit mal wieder hinterher ...

Fondas Pendant (Gast) - 19. Jul, 19:27

Das nächste Mal rollen dann auch Büsche durchs Bild und ich spucke in den staubigen Sand. Eventuell kann ich bis dahin auch Mundharmonika spielen..

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